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Paola De Martin
Paola De Martin und Jelica Popovic diskutieren über Beleidigungen und Beschimpfungen, denen sie als Kinder von italienischen (Paola) und jugoslawischen (Jelica) Migrant:innen ausgesetzt waren. (Proben für Not the Same Procedure!, der SBK-Abend der Appelle am Zürcher Theaterspektakel im August 2021.
Ich war in der 5. Klasse, Oktober 1976, das Foto hat meine Mutter gemacht, es ist mein 11. Geburtstag. Meine beste Freundin und ich hatten eine Zaubershow vorbereitet und die Klasse zu mir nachhause eingeladen. Die Freunde und Freundinnen prüften mit Sperberaugen unsere Handlungen, aber wir waren richtig gut vorbereitet, die Tricks klappten. Ich erinnere mich, dass meine Mutter immerzu gelacht hat vor Freude. Partytime! Es waren gute Zeiten. Nach Schwarzenbach, und der hatte verloren. Wir wohnten damals in einem leerstehenden Industriegebäude der Baufirma, für die mein Vater arbeitete, auf dem Dach. Ganz toll - viel Platz. Ein Jahr später schlug die Ölkrise auch beim Arbeitsgeber meines Vaters zu und von diesem High war nichts mehr spürbar.
Meinem Vater standen die Optionen zur Verfügung, entweder zum halben Lohn als Polier (statt wie bisher als Maurer-Vorarbeiter) mehr Verantwortung für die Bauleitung zu übernehmen oder die Kündigung, was damals einem Landesverweis gleichkam. Die Arbeitslosenversicherung war noch nicht obligatorisch, ein Arbeiter mit C-Ausweis ohne Arbeit hatte kein Recht hier zu sein. 300'000 Menschen verliessen das Land innert Kürze. Hatte Schwarzenbach mit seiner Initiative auf Umwegen also doch gewonnen? Mein Patenonkel und seine Familie gehörte zu jenen, die gehen mussten. Mein Vater blieb seinen Töchtern zuliebe. Ich wollte mein Leben nicht auf den Kopf stellen, aber er war in seinem Innersten getroffen und gebrochen. Nach aussen markierte er den Harten. Meine Mutter musste viel häufiger putzen gehen, um die finanziellen Einbussen wettzumachen. Sie stand unter Dauerstress. Die Sparkonten, die meine Eltern für unsere spätere Ausbildung eröffnet hatten, wurden aufgelöst. Es mangelte uns an allem.
Unsere Perspektiven verdunkelten sich und wurden kurzfristig. Ich war oft auf mich allein gestellt und sah die Eltern immer öfter angespannt, traurig und verschwiegen, wenn sie zuhause waren. Die Netzwerke, die sie getragen hatten – im doppelten Sinn von: sie wurden getragen durch die Netzwerke und sie trugen selbst dazu bei (kath. Kirche, Boccia-Club, ECAP, FCLI) – verfielen oder wurden bedeutungslos. Ich stand in der 6. Klasse vor dem Übertritt in die Oberstufe. Ich wollte nichts wie weg von diesem Leben, ich wollte auf das Gymnasium, für meine Eltern ein unvorstellbarer Wunsch. Nicht nur für sie, ihr ganzer Freundeskreis fand das unerhört. Mein Glück, dass mein Lehrer mich unterstützte. Mein Glück, dass ich gelernt hatte, wie man zaubert, also nahm ich auch diese Hürde. Meine Eltern waren sehr stolz. Wenig später hörte ich dann von einem Kollegen am Gymnasium zum ersten Mal den unglaublichen Satz: "Du siehst aber gar nicht wie eine Italienerin aus!" Was hiess hier "aber"? Im Subtext lag ein Vorwurf. Man verlangte plötzlich mehr, nicht weniger, sichtbare Italianità von uns. Ich empfand das als Zumutung, nach jahrelangem Widerstand gegen Rassismus und harten Klassenkämpfen, plötzlich diese schmierige Coolheit, die uns von aussen wie eine neue Maske aufs Gesicht geklatscht wurde, während andere, neue Migrant*innengruppen im Land den gleichen Anfeindungen ausgesetzt waren wie früher wir. Es tut unendlich gut, heute im SBK zusammen an solche Kreisläufe zu erinnern und dagegen zu kämpfen, dass sie sich wiederholen – auch spielerisch. Wie zum Beispiel mit Jelica.
Kerim El-Mokdad
Kerim El-Mokdad und Rami Msallam am Circuit2 vom Collectiv Circuit Cerveaux, Oktober 2021, unterwegs zur Ortsbesichtigung mit dem Schwarzenbach-Komplex in Zürich-Affoltern, wo Paola De Martin das unscharfe Foto von illegalisierten Kindern aufgenommen hatte, Ausgangspunkt des Blogbeitrags Brennende Unschärfe auf der INES-Website.
Nach meinem Radiointerview (SRF Kontext) zu "Klassismus im Theater" schrieb Paola De Martin mir eine Mail. Am Radio hatte ich über mein Studium der Szenografie an der ZHdK gesprochen, in dem vieles für mich nicht selbstverständlich war. Ich bin ein Arbeiterkind, in der Radiosendung habe ich die Herkunft meiner Eltern und meines italienischen Grossvaters bekannt gemacht. Meine BA-Arbeit schrieb ich zum Thema Klassismus im Theater, ich nannte sie Klassenreise.
Paola De Martin, ebenfalls Arbeiterkind, wurde durch das Radiointerview auf mich aufmerksam. Wir telefonierten sehr lange miteinander, wir hatten einander viel zu sagen und uns war klar, dass wir gemeinsam am SBK arbeiten würden. Meine erste Begegnung mit dem SBK fand dann am Jour Fixe 07 in der Gessnerallee statt. Das war eine der ersten Möglichkeiten nach dem Lockdown, sich wieder im realen Raum zu versammeln - nach etwas mehr als einem Jahr. Da spürte ich, dass der SBK ein echtes gesellschaftliches Anliegen ist und dass nicht ein performativer Akt im Vordergrund steht. Was mich am meisten faszinierte: dass aus allen Altersgruppen Personen im Diskurs aktiv waren (und sind) und dass alle auch in die praktische Erinnerungsarbeit eingebunden werden.
Ich wollte bleiben. Mir wurde eine spannende Aufgabe anvertraut und auch die Menschen haben mich dazu bewegt zu partizipieren und Freundschaften zu schliessen. Später wurde daraus dokumentarisches Theater, unser Abend der Appelle Not the same Procedure! Und ich voll dabei: als Inspizient, Dramaturg, Verantwortlicher für Proben und technische Einrichtung – und als Performer auf der Bühne!
Zuerst erzählte ich meiner Familie davon, da wir alle einen Bezug haben zu den Themen haben, später meinen Freund*innen . Meine Mutter war am Abend der Appelle im Publikum! Unsere Show hat sie bewegt. Mein Grossvater, selber stark betroffen und und trotzdem politisch rechts, zeigte sich ungewöhnlich offen, als ich ihm davon erzählte. Das berührte mich auch.
Es ist bestärkend, zu sehen, dass man mit Kompliz*innen viel stärker ist und schneller einen Konsens aus widersprüchlichen Blockaden findet. Das ist produktiv, das bringt uns weiter. Diese Erinnerung bedeutet für mich somit "Mut zur Aktion". Mich persönlich würde es interessieren, diese Thematiken einem noch breiterem Publikum zugänglich zu machen und mit dauerhaften Installationen im öffentlichem Raum in verschiedenen Schweizer Städten präsent zu sein.
1994, Kurvenstrasse in 8006 Zürich, kurz vor dem Umzug. Cornelia Braccini, Kerim El-Mokdad und Ali El-Mokdad.
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