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Not the Same Procedure!
SBK-Abend der Appelle am Zürcher Theaterspektakel:

Nicht immer wieder vergessen! Seit einem Jahr sammelt die Arbeitsgemeinschaft Schwarzenbach-Komplex Erinnerungen an unsichtbaren Rassismus und unsichtbaren Widerstand - vor, während und nach der Schwarzenbach-Initiative vom 7. Juni 1970. Die Gruppe, die sich aus Alltagsexpert*innen, Aktivist*innen, Kulturschaffenden und Forschenden zusammensetzt, war bereits 2020 als ké*sarà im Programm des Zürcher Theaterspektakels. Damals wurden unter dem Titel Räume erinnern verschiedene Orte in Zürich erkundet, sowie eine erinnerungspolitische Versammlung lanciert, um die vergessene Geschichte der sogenannten Gastarbeitermigration wiederzubeleben.

Michael Züger ©

Am Zürcher Theaterspektakel 2021 lädt die Gemeinschaft zu einem vielstimmigen Abend der Apelle. Wütend, melancholisch, ehrlich und roh schwemmen die Erinnerungen und Utopien an die Oberfläche: linguistische Analysen entlarven die böse Banalität der migrationspolitischen Sprache – "Familiennachzug", "Rotationsprinzip" oder "Gastarbeiter*innen". Soundcollagen machen die inneren und gesellschaftlichen Geräusche von Erinnern und Vergessen spürbar. Ein Punk-Song erzählt vom "Drzwüsche-Sii". Eine satirische Rede entlarvt die antidemokratischen "Schweizermacher". Ein Brief an eine Bundesrätin fordert Anerkennung und Reparation.

Unter dem Claim Not the Same Procedure! bildet sich ein Chor mit Stimmen, Geschichten, Klängen und Forderungen aus dem Migrationsuntergrund. Der Abend öffnet eine Tür in eine andere Zukunft. (zts)

Aufführungsdatum:
Mo 30.8.2021 19:00 Uhr

Mit:
Rohit Jain
Paola De Martin
Salvatore Di Concilio
Jelica Popović
Catia Porri
Wanda Wylowa
Maria-Cecilia Quadri
Gessica Zinni alias "Taimashoe"
Maria Hansen
Kerim El-Mokdad
Rami Msallam
Daphne Kokkini
Sara Barosco
Erik Altorfer
Maria Satta Ermano
Benyamin Khan

 


Das Fragment IST Geschichte – die Arbeit von Taimashoe beim Schwarzenbach-Komplex

Wie alles begann

Den Song Cosa Sono Io/Autostrada führte ich, Gessica Zinni alias Taimashoe, das erste Mal zusammen mit Franziska Koch alias No I Don't im Rahmen von Who takes the Rap auf. Es war ein Abend mit Film, Lecture, Performances und Konzerten zur Schweizer Asylgesetzgebung, welcher vom OOR Salon im UTO Kult 2016 veranstaltet wurde. Wir zeigten auf, wie seit Ende der 1970er Jahre in der Schweiz Einwanderung und nationale Grenzziehung politisch verschärft und rechtlich immer restriktiver gehandhabt wurden. Seither wurden etliche Gesetze verabschiedet, welche zu einer immer repressiveren Asyl- und Ausländer*innenpolitik geführt haben. Der anhaltenden rechtspopulistisch definierten Volkskörper-Rhetorik wollten wir an diesem Abend mit performativen Akten von persönlichen Geschichten begegnen – neben dem vielfältigen Austausch über das, was wir über widerständige Bewegungen und der Entstehung der Schweizer Asylgesetzgebung wissen.

In den Mittelpunkt des gemeinsamen öffentlichen Raums stellten wir unsere persönlichen Geschichten als musikalische und vergängliche Übertragung einer grossen Geschichte des Unrechts. Ganz im Sinne der emanzipatorischen Geschichte des Raps und anderer widerständigen Lied-Traditionen zeigten diese Songs und Lyrics, wie den rechts-populistischen Mythen des Ausschlusses mit gesprochenen und gesungenen Texten bewusst ein anderes Wir entgegensetzt werden kann. Das Motto der Veranstaltung: Who’s got the Mic?!

Im Kontext dieser Veranstaltung schreibe ich während meinen Ferien in Neapel einen lyrischen Text. Ich lege eine Basis für die gemeinsame musikalische Erarbeitung mit No I Don't. Ich setze mich mit der Migration meiner Eltern aus Italien in die Schweiz auseinander, entscheide mich für den Moment: mein Vater im Auto auf der Autobahn und zoome in seine Vergangenheit rein. In den Übergang. Crossing Borders. Einfühlen: sich vorstellen, wie er auf der Autobahn in die Schweiz fährt. Was waren seine Zukunftsgedanken? Wie war die Zeit, als er in der Baracke gelebt hatte. War er einsam? Fand er leicht Anschluss? Meine Lyrics nehmen Form an: er schreibt Briefe, ich schreibe Briefe, scrivo lettere, könnte mich verbinden, warte auf ein Telefonat, höre vertraute Stimmen von Freunden und Familie, er sagt: siamo a casa, mitteilen, das ist nun mein neues Zuhause. Ein Song nimmt Form an, Lyrik/Text/Sound sind politisch/persönlich, ein poetischer Ausdruck für die Fragen, die sich mein Vater auf der Fahrt in die Schweiz gestellt hat. Was bin ich? Cosa sono io? Ein Gefühl, wie ein Echo auf einen Song, Vagabondo che sono io (das Lied ist von der Band I Nomadi).

Was hat er für Emotionen durchlebt?
Was waren seine Beweggründe?
Wie fühlt er sich?
Woran hält er sich fest im Wissen, nicht zu wissen, was ihn genau erwartet?
 
Mut, Hoffnung, Angst, Einsamkeit
Neuland, Sprache, Prägung
Freunde, Materialien, Ankommen
Quando ritornerò a casa?
Autobahnbilder im Kopf
Eine unscharfe Vorstellung
Reisen, Ausreisen, Ausland
Ausländer, Fremd und Fremder
Zukunft: ... come sarà? avanti si va ...
Im Hier und Jetzt, wie wird es sein
Hoffnung: amici troverò
Ungewissheit: und wen ziehe ich nach, chi mi porterò?
Was wird ihn erwarten? Das Leben dort?
Hoffnung
Und wie wird er wohnen, wen wird er kennenlernen? Was antreffen?

Meine Erfahrung ist der Widerstand meiner Eltern gegen das gemeinsame Erinnern, sie wollen vergessen, was war. Unterdrücken. Schweigen. Es ist unwichtig, es ist beleidigend. Dann rollt eine Träne über das Gesicht meines Vaters, als er mir seine Einsamkeit, die er damals fühlte, mitteilt, einsam in der Baracke. Berührend und bitter, nach all den Jahren.
 
Der Song soll Cosa Sono Io heissen, er wird 2018 auf Taimashoes Debutalbum Taimashoe & No I Don’t veröffentlicht. Meine Arbeit beim Schwarzenbach-Komplex geht weiter – gegen das Vergessen. Der SBK lädt mich 2020 ein, den Song an einem Jour Fixe zu performen. Ich spiele einen weiteren Song: Talk.

hey!
         hey !  hey! hey hey.....
I'm talking to u!
         talk 'n talk
 
are you there in our auditory bliss out?
do u listen through the trees?
sand leaning against fences
dunes made by many moons
 
         I let you come so close!
talk
         talk
   show me by example!
come down from the celestial sky messiah
        
         I'm itali, arabi, mexicali, arawaki,
                                                         up ur assi!
here am I
hear am I
here are ears
ears for talk talk   
         u hear me?
         not hear me!
talk
         talk

Nach der Performance gibt es einen Talk/Austausch. Fragen an mich. Ich erzähle von der Entstehung des Songs. Kollektives Teilen, kollektives Verarbeiten. Meine Gedanken: So vielen anderen Menschen/Migrant*innen ging es ebenfalls so. Wie ist es heute mit Integration und Partizipation und Emanzipation …? Paola De Martin ist inspiriert, sie sucht das persönliche Gespräch zu mir, sie teilt mit mir ihre Fragmente. Strassenlärm wird rhythmisch, Lastwagen klingen wie Walgesänge, das Rauschen des Verkehrs kehrt zurück zum Ursprung, es klingt wie Meeresrauschen, Meer in Zürich, Verhärtungen werden weichgespült, Erinnerung fliesst zurück und vorwärts. Erste Ansätze zu einer gemeinsamen Lautmelodie werden gemeinsam skizziert: Memoria entsteht.

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Fieldrecordings fliesen in Memoria rein aus der Zeit meiner Ferien in Neapel, als ich den Text Cosa Sono Io schrieb. Zufall. Zufall?

Italien in Zürich hören
Zürich im Meer hören
Umgebung und Form durchdringen sich
Sound flechten, Stoff von Paola
Umarmung ihrer Mutter
Umarmung unserer Mütter
Faden aufnehmen
Stream of consciousness
Memoria is a work in Progress

Erste Versionen zeige ich am Jour Fixe 07. Memoria findet ihren Platz in der musikalischen Einrichtung für unseren Abend der Appelle, Not the same Procedure! am Zürcher Theaterspektakel 2021. Da performe ich Cosa Sono Io ein weiteres Mal. Das Kollektiv gibt ihm einen weiteren Namen: Autostrada.
 
Memoria wird für den Abend abgespeckt, mit anderen Songs verhakt, mit Soundcollagen verwoben und neu interpretiert. Der Ausdruck ist aggressiver, lauter und noisier. Krach! Ich verbinde es mit dem Gefühl von Wut, Zweifel, Scham.
 
Düsterer Auftakt mit Noise, laut und wummerig. Das passt. Warum? Rami Msallam kommt dazu, er erzählt dem Kollektiv seine Geschichte. Während der Erarbeitung der Performance bringt er sich mit Text und Gitarre ein. Wir improvisieren, inspirieren uns gegenseitig und diskutieren, teilen und unterstützen uns. Schreiend, wütend, gemeinsam wütend, gemeinsam Schreien braucht Mut, tut gut!
 
Paola De Martin hatte Rami Msallam gefragt, ob das Meer für ihn nicht zu heavy sei, auch nur als Metapher? Unsere Vorstellung vom Meer in Zürich und seine Flucht über das Meer, wie bringen wir das zusammen, Rami und ich? Hohe Wellen, Durst, Hunger, Not, dieses Meer ist nicht weich, es ist hart. Hart, es zu überqueren, auf dem kleinen Boot, im Laster, im Tank, so viele Vorstellungen und Möglichkeiten und kein Halt, wo gibt es Halt? Migration, Wut, Hoffnung, wiederholende Emotionen, wiederholt in den Generationen. Oder nicht? Wir werden das noch stärker reflektieren, das Hin und Her zwischen: Angst! Chancen? Angst? Chancen! Der Songtext Now! von der Punkband No Means No scheint mir sehr passend zu diesen Gefühlen. Auf Deutsch liesse sich das so übersetzen:

Jetzt, wenn ich den Mut hätte
würde ich in dein Gefäß schütten
all die Dinge, die ich gehört habe,
dein Flüstern in der Dunkelheit,
und nichts könnte deutlicher sein
als die Dinge, die getan wurden
und es kann
kein Geheimnis geben!
was noch kommen wird!
 
Refrain:
es hat kein Ende!
also tun wir so als ob!!!
es ist jetzt, es ist jetzt!!!
 
und wenn der Krug schwer war
der dein Vertrauen schärfte
würde ich es an meine Lippen gießen
und Bedeutung und Sinn aus ihm trinken
 
                  
lasst uns jetzt anfangen
es ist jetzt

Neues Leben, aber die Erinnerung ist noch nicht ganz angekommen. Mit Thistle in the Heather interpretiere ich eine alte Songskizze neu, eine alte musikalische Version von Taimashoe. Eine Retromelodie mit einer Orgel kommt dazu, das Meer rollt hin und her und verdrängt allmählich den Noise. Die Lyrics sind sarkastischer. Die Musik vermittelt Leichtigkeit, Hoffnung, das gute Meer fliesst rein ins harte Meer. Die Erinnerung bleibt. Der Text wird ironisch rezitiert. Übersetzt könnte es heissen:

Eine Distel im Heidekraut oder ein Kuss in der Dunkelheit
gebunden auf ihren Trittbrettern
ihre Stimmen erheben sich wie Geister in einem heulenden Wind
 
in klapprigen Käfigen, die sich zur Ruhe begeben
das Erbe der Erinnerungen in neue Rahmen gesetzt
 
Dafür haben wir gezahlt!!!
Das ist es, wofür wir bezahlen!!!
 
Ihre Stimmen jagen durch einen heulenden Wind
Schlechte Nachrichten für Betrüger!
ein allgemeiner Aufruf gegen alle Fummler (Betrüger, Pfuscher)
 
- erwischt! -
mit Krümeln in ihrem Schoß
 
ihre Stimmen jagen im heulenden Wind
Falten über ihre Fronten
 
So rührend!
So rührend!
Wir wiederholen uns ständig! (ironisch)

Das Kollektiv kommt auf die Bühne, wir tanzen zur Musik. Partizipation, teilen, geniessen, wir freuen uns. Das Meer bleibt das Schlusslicht der Performance unseres Abends der Apelle!