Jour Fixe 05:
Illegalisierung und Familienpolitik
Wir sind mitten im zweiten Lockdown, Winter 2020/21. Der Jour Fixe für Ende Februar ist geplant und kann nicht so stattfinden, wie wir uns das vorgestellt hatten. Wir hatten ein Treffen gepant zwischen dem Schwarzenbach-Komplex und vielen ehemaligen betroffenen Arbeiterfamilien, die zwischen den 1940er und den 2000er Jahren wegen des Saisonnierstatuts A und Jahresstatuts B gezwungen worden waren, in den Untergrund abzutauchen, oder sich zu trennen – weil sie nach dem Schweizer Gesetz nicht zusammen sein durften.
© Nando von Arb, https://nandovonarb.ch/
Die Idee, anstatt eines Treffens eine Radiosendung zu gestalten, fand an einem unserer Zoom-Meetings rasch Anklang beim SBK. Paola De Martin und Catia Porri, zwei ehemalige illegalisierte Kinder dieser Arbeiterfamilien, übernahmen die Verantwortung. Die SBK-Arbeitsgruppe Illegalisierung und Familienpolitikwurde erweitert und tatkräftig unterstützt durch Erik Altorfer, Salvatore Di Concilio, Maria Satta und Melinda Nadj Abonij. Wir arbeiteten auf Hochtouren. Nekane Txapertegi von Radio LoRa Frauen war sofort bei uns, speditiv, solidarisch, mitfühlend, technisch versiert. Nekane, Paola und Catia kamen sich sehr nah, die Verbindungen ihrer und unserer Gewalterfahrung – waren auf der Oberfläche so anders und zutiefst spürbar: so ähnlich. Es brauchte nicht viele Worte, aber die Worte kamen doch. Vertrauen wurde handfest, nahm rasch konkrete Formen an.
Folgende Gäste sagten zu: aus Italien Concetto Vecchio (La Repubblica, Jagt sie weg!) zu, aus Basel Amina Trevisan (Depression und Biografie), Magali Michel und Sarah Kiani von der Uni Neuchâtel (Les enfants du placard) und Vincenzo Todisco (Das Eidechsenkind / Il bambino lucertola) ergänzten das Bild. Musikalische Gastbeiträge kamen von Laetizia Fiorenza und Michele Siciliano, die Catia live interviewte. Standarddeutsch, Schweizerdeutsch und Italienisch flossen ineinander. Unterschiedliche Töne wurden angeschlagen. Melinda Nadj Abonijs Glossartext Familiennachzug, das Ungeheuerliche von ihr so fein getroffen und gesprochen, wurde eingespielt, der erste von weiteren Glossartexten, die später, in der Phase 3 am Theaterspektakel, folgten.
© Nando von Arb, https://nandovonarb.ch
Alle angefragten Gäste sagten mehr oder weniger dasselbe: eigentlich hätten sie gerade keine Zeit, so kurzfristig, aber für uns würden sie sie schon finden. Wir wussten: zuhause hörte der ganze SBK mit, und der Illustrator Nando von Arb nahm ad hoc unsere Impulse auf und setzte sie in Comic-Form um.
Die Sendung wurde in der Folge auch von den Studierenden Scientific Visualization der ZHdK durch kurze Animationen – nun ja, animiert, und wieder lebendig.
© ZHdK, BA Knowledge Visualization, https://kvis.zhdk.ch
Lebendig war auch das offene Telefon während der Sendung. Es wurde heiss, vielleicht zu heiss, denn irgendwann brach es zusammen. Aber wir konnten ein paar Zeugen dal vivo – direkt – hören, wie sie von ihrer erschütternden strukturellen Gewalterfahrung erzählten. Wir tauchten ab und tauchten auf. Wir hatten eine Playlist zusammengestellt, heilsam, überraschend. Die Sendung schloss – das wurde Catia und Paola während der Vorbereitung sehr rasch klar – mit Voodoo Child von Jimmy Hendrix, gesungen von Terez Montcalm.
© Nando von Arb, https://nandovonarb.ch
Voodoo, ja. Am Ende konnten wir es fast nicht glauben, innerhalb von wenigen Wochen hatten wir eine zweieinhalbstündige Sendung produziert, und das Material hätte eigentlich für fünf Mal so viel gereicht. Catia, die wunderbare La-voce-italiana-di-radio-LoRa-Catia sagte am Schluss in alter Frische: "Wir machen einfach weiter!" Ja.
Und Paola, die diesen Text schreibt, ging nachhause, überglücklich. Während der ganzen Sendung wurde sie von einem ausserordentlichen Gefühl getragen, dass sie, drei Frauen im Studio, im Lockdown, mit Maske - Paola, Catia und Nekane - auf wunderbare Art verschieden waren und gerade deshalb einander unverzichtbar und miteinander unvergleichbar. Da war eine seltene Magie der Solidarität am Werk, ein Moment ganz und gar ausserhalb der kapitalistischen Logik, die unterschiedliche Menschen sonst voneinander trennt, um sie zu beherrschen. Gerade für uns, die staatliche Gewalt, Trennung und Illegalisierung erfahren hatten, sind solche Momente ein Segen. Wir hatten einen solchen Moment selbst erschaffen. Selbstheilung. Paola erzählte später der SBK-Gruppe, dass es sich wie das Ablegen eines schweren Rucksacks angefühlt hatte, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie ihn trug: die Erkenntnis, hey, ich bin nicht schuld an der Gewalt, die wir erfahren haben! Wir hatten – last but not least – dank dem Wohlwollen und dem offenen Ohr unserer SBK-Leute Zeugnis unseres Überlebens nach dieser Gewalt abgelegt, wie einen schweren Rucksack – auf eine Art, wie es noch nie in der Geschichte der Schweiz vorher möglich gewesen war. Wir hatten Regie geführt, das Skript geschrieben, die Besetzung bestimmt, wir hatten selber mitgespielt – und wenn Nekane unser Mik abstellte, hatten wir sogar mitgesungen, zum Beispiel mit Adriano Celentato: Io non so parlar d’amore, l’emozione non ha voce.
Hier geht es zur Aufnahme: