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Jour Fixe 01:
Welche rassismuskritische Erinnerung wollen wir?

Am 26. September 2020 fand in der Studiobühne der Gessnerallee von 16.00 bis 22.00 Uhr der erste Jour Fixe statt – das erste der geplanten monatlichen Arbeitstreffen. Ziel der Zusammenkunft war es, einen gemeinsamen Rück- und Ausblick auf die ersten Schritte im «Schwarzenbach-Komplex» vorzunehmen – und so den kollektiven Prozess weiterzuführen. Besonderer Programmpunkt: Ein Gespräch zu Erinnerung und antirassistischen Allianzen mit Izabel Barros, Malek Ossi, Paola De Martin und allen Anwesenden.

Gut 20 Personen hatten sich trotz Corona-Unsicherheit eingefunden, die eine Hälfte war schon Teil des SBK-Prozesses, die andere Hälfte stiess neu dazu. Wir fragten uns zuerst: Was hat der Kick-off für Erwartungen ausgelöst? Was wollen wir in diesem Prozess, was wollen wir im Schwarzenbach-Komplex?
 
Aber was uns alle noch mehr bewegte: Wo stehen die Anwesenden bezüglich Rassismus- und Migrationserfahrung? Was sind unsere Rassismuserfahrungen und Erinnerungen des Widerstands? Und wie lassen sich diese teilen und gegenseitig verstärken?
 
Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Klassenherkunft, Nachkommen von Expats und von Arbeiterfamilien kamen an diesem Tag zusammen, aus Europa und aus weiteren Kontinenten. Ihre Diskriminierungen sind nicht gleichzusetzen, und doch gibt es Verbindungen. Wir kennen alle die Zurückweisung durch jene Teile der Schweizer Bevölkerung, die sich uns überlegen fühlen. Frauen kennen sie mehr als Männer, Geflüchtete mehr als Migrant:innen, BIPOC mehr als weisse Menschen. Es braucht Mut, einander unsere Geschichten trotz den Unterschieden anzuvertrauen. Wer anerkennt die Perspektiven der anderen, wer zeigt eine Abwehrhaltung?

Wir hatten Izabel Barros und Malek Ossi zu einem Community-Gespräch eingeladen, um diese Fragen zu diskutieren und Allianzen mit der postkolonialen und der Asylbewegung zu stärken.
  
Erinnerung ans Gespräch: Text/Bild in Bearbeitung
 
Wenn der feine Austausch gelingt, dann wirkt es befreiend. Und wenn nicht? Wir verabreden zu Beginn, dass wir sensibel miteinander umgehen - aber dann geschehen doch Dinge, die irritieren. Eine Teilnehmerin sagt, man könne nicht von Rassismus sprechen, wenn es um die italienische Community geht, man müsse dann den Begriff Fremdenfeindlichkeit verwenden.
 
Umgekehrt spricht eine interessierte ältere schweizerisch-italienische Seconda davon, dass Rassismus immer und überall schon stattgefunden hat: eine menschliche Konstante. Worum geht es hier? Ist das ein Ausdruck des kommunistischen Internationalismus – in der italienischen Linken immer wieder spürbar? Oder ist es eine Abwehr des schmerzlichen Bewusstseins, als weisse Migrantin Privilegien gegenüber Schwarzen Migrantinnen und Migranten zu haben, zumal Italien ja auch eine Kolonialgeschichte hat, die noch kaum aufgearbeitet wurde?
 
Ein weisser Schweizer Teilnehmer spricht, kritisch zwar, aber mit einem ironischen Grinsen über den Rassismus gegenüber «den Tschinggen» von damals. Er imitiert diejenigen, die damals rassistisch sprachen. Die Ironie schafft eine Distanz und eine Überlegenheit gegenüber den "rassistischen Anderen". Aber was das Grinsen wohl bedeutet? Ist nicht etwa auch die Lust spürbar, das rassistische Wort auszusprechen?

Das T-Wort

Paola De Martin hat zufällig aus ihrem Rohmanuskript der kürzlich abgeschlossenen Dissertation einen Abschnitt über das T-Wort dabei (sie nennt es das "T-Wort" in Anlehnung an das N-Wort). Wir probieren im Plenum eine Performance aus, bei der Paola ihren Text vorliest und die Anwesenden anstelle des T-Worts "Cin-Cin!" sagen: "Prost!" auf Italienisch. Die Wirkung ist überraschend, wie die Berührung eines Zauberstabs. Paola sagt später, die spontane Performance fühlte sich wie anti-rassistischer Exorzismus an. Der ganze Hass im T-Wort verpuffte mit dem "Cin-Cin!" und verwandelte sich in dem Augenblick in Lebensfreude und Solidarität. Diese T-Wort-Performance wurde später ein interaktiver Teil des Abends der Appelle mit dem Publikum am Zürcher Theaterspektakel im Sommer 2021. Die T-Wort-Performance bewegte Paola auch dazu, die Stelle in der Dissertation zu überarbeiten, ihre Analyse wurde dadurch präziser, das heisst: noch abgründiger! Und Jelica bewegte diese Performance dazu, nach diesem Jour Fixe mit Paola Kontakt aufzunehmen. Später schrieb sie einen Text für das Theaterspektakel über die Beschimpfungen als "Jugo" in den 1990ern und die damit verbundene subversiven Aneignung durch die Betroffenen selbst.

Racial capitalism, noch immer unverstanden

Auf dem Podium erinnerte sich Paola De Martin, dass man in den späten 1970er Jahren sagte:
 
"Was der Schwarzenbach nicht geschafft hat, das schafft jetzt die Ölkrise!"
 
Gut 300'000 Menschen ohne Schweizer Bürgerrecht wurden aufgrund der Ölkrise arbeitslos und mussten die Schweiz verlassen. Keine Arbeitsbewilligung, kein Aufenthaltsrecht. Sie wurden nicht als Menschen betrachtet, sie wurden als Konjunkturpuffer missbraucht. Auch das ist ein Trauma, das bis heute nicht aufgearbeitet wurde. Es gibt keine ikonischen Bilder – wie das ikonische Bild des Saisonniers mit Koffer im überfüllen Zug – für diesen Exodus von bereits integrierten Familien mit hart erarbeitetem Status B. Paola sagte das und Malik erwiderte sofort:
 
"Ja, und was die SVP nicht schaffte, das schafft jetzt Corona."
 
Damit sprach er die neue politische Herabstufung von Sozialhilfebezüger:innen ohne Schweizer Bürgerrecht während der Pandemie an, er wies auf ihren drohenden Landesverweis nach erfolgter Abstufung hin oder auf ihre drohende Armut, wenn sie auf die Sozialhilfe verzichten, auf die sie doch Anspruch hätten. Rassismus und Klassismus gehen Hand in Hand. Damals und heute. Wie genau, bleibt noch zu klären.